„Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ von Saša Stanišić, erschienen bei Luchterhand ᵘⁿᵇᵉᶻᵃʰˡᵗᵉ ᵂᵉʳᵇᵘⁿᵍ
Klappentext:
Was wäre, wenn man nicht diese eine Entscheidung getroffen hätte, sondern jene andere? Was wäre, hätte man der Erwartung getrotzt?
Und dann ist da trotzdem die Furcht, feige gewesen zu sein, zu lange gezögert und etwas verpasst zu haben, ein besseres Ich, ein größeres Glück, die lustigeren Haustiere und Partner.
Saša Stanišić führt uns an Orte, an denen das auf einmal möglich ist: den schwierigeren Weg zu gehen, eine unübliche Wahl zu treffen oder die eine gute Lüge auszusprechen.
So wie die Reinigungskraft, die beschließt, mit einer Bürste aus Ziegenhaar in der Hand, endlich auch das Leben in die eigenen Hände zu nehmen. So wie der Justiziar, der bereit ist zu betrügen, um endlich gegen seinen achtjährigen Sohn im Memory zu gewinnen. Und so wie der deutsch-bosnische Schriftsteller, der zum ersten Mal nach Helgoland reist, nur um dort festzustellen, dass er schon einmal auf Helgoland gewesen ist.
Am besten wäre ja, man könnte ein Leben probeweise erfahren, bevor man es wirklich lebt.
Der vieldekorierte Schriftsteller Saša Stanišić hat mit „Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ einen Roman geschrieben, der sich trotz seines tiefgründigen Themas durch große Leichtigkeit auszeichnet.
Der womöglich längste Buchtitel aller Zeiten, zumindest in meinem Bücherregal, hat direkt meine Aufmerksamkeit geweckt, ebenso wie das Retro-Cover mit gezeichneten Motiven zu Helgoland. Da mir die deutsche Hochseeinsel in diesem Jahr schon mehrfach zufällig begegnet ist, hatte ich sofort eine Verbindung zum Buch, noch bevor ich die erste Seite gelesen hatte.
Das Buch hat einen ganz eigenen Stil — und eigentlich nicht nur einen. Wenn Saša Stanišić aus der Ich-Perspektive schreibt, unterscheidet sich der Stil merklich von den übrigen Protagonisten, die in den einzelnen Geschichten beschrieben und am Ende zusammengeführt werden. Seine aufmerksame, den Menschen zugewandte Beobachtungsgabe mit der Fähigkeit, auf leichte Art und Weise zu beschreiben und zu kommentieren, ohne zu kritisieren oder die Menschen bloßzustellen, hat mir sehr gut gefallen.
„Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne“ ist für mich echte Literatur und während der Lektüre dachte ich mehrfach, das es einen Preis verdient hätte (und wie ich dann erfuhr, auch erhalten hat — den mit 30.000 Euro dotierten Wilhelm Raabe-Literaturpreis 2024).
Wie würde unser Leben verlaufen, wenn wir diese oder jene Entscheidung anders getroffen hätten? Und was wäre, wenn es eine Preview-Funktion gäbe und wir könnten nach einem Blick in die Glaskugel entscheiden, welche Zukunft wir gerne erleben würden? An Beispielen wie der Reinigungskraft Dilek, dem Justiziar und Vater Georg oder der Witwe Gisel (die mit der Gießkanne) sowie aus seiner Ich-Perspektive nimmt uns Saša Stanišić mit in verschiedene Leben und Szenarien, die zum Mitfühlen, Lachen und Nachdenken einladen. Auf die beschriebene leichte Weise verbindet Stanišić dabei auch gesellschaftskritische Themen, ohne den Zeigefinger zu erheben.
Ich habe das Buch sehr genossen und kann es uneingeschränkt empfehlen — da kann es nur 5/5 Sternen geben.