„22 Bahnen“ von Caroline Wahl, erschienen bei Dumont
Auf kein Buch war ich in letzter Zeit gespannter, als auf das Debüt von Caroline Wahl. Gefühlt alle redeten von dem Roman und ich wollte mich unbedingt mit eigenen Augen davon überzeugen, ob er wirklich so gut ist und ob der Hype berechtigt ist, deshalb vorab: Ist er!
Erst einmal vielen Dank für den netten Kontakt und die Zusendung eines digitalen Leseexemplares an den Dumont Verlag. Ich kann nur sagen: Ein Hoch auf eBooks! Ich legte sofort los und inhalierte das Buch in kürzester Zeit.
Darum geht es: Die Schwestern Tilda und Ida wohnen im traurigsten Haus in der Fröhlichstraße. Ihre Mutter wohnt auch dort, aber auf sie zählen können sie nicht. Wo Tildas Freunde längst ausgeflogen sind und die große weite Welt entdecken, ist sie geblieben: Jemand muss sich ja um Ida kümmern. Das ist neben der Uni und ihrem Job an der Supermarktkasse nicht immer leicht. So oft wie möglich geht Tilda ins Schwimmbad und schwimmt genau 22 Bahnen. Irgendwann taucht Victor auf, der große Bruder von Ivan, den Tilda von früher kennt, und schwimmt auch genau 22 Bahnen. Dann wird ihr noch eine Promotion in Berlin in Aussicht gestellt, doch als sie schon selbst daran glaubt, dass alles gut werden könnte, gerät die Situation zu Hause außer Kontrolle.
Normalerweise sind es Thriller, die ich nicht mehr aus der Hand legen kann. Und dann kam „22 Bahnen“ und ich wurde eines Besseren belehrt: Auch ein Roman kann einen also fesseln und absolut in den Bann ziehen.
Das liegt zum Teil bestimmt an dem etwas eigenwilligen und modernen Sprachstil, den ich erst spät bemerkte, so gut fügte sich alles zusammen. Bei anderen Büchern stolperte ich kürzlich bereits über die nicht vorhandene wörtliche Rede, hier passte es einfach.
Das Buch wird aus Tildas Sicht erzählt und sie beschreibt ihren Alltag knapp, logisch, fast nüchtern, wie eine Mathematikerin wie sie nun mal denkt (ja, Klischee-Alarm, ich weiß). Sie muss organisieren, ihr Alltag ist getaktet und es ist keine Zeit für ausschweifende Beschreibungen oder Träume. Doch zwischen den Worten erzählt sie so viel mehr und bis zum Schluss habe ich gehofft, dass alles gut wird. Dass das Monster verschwindet und ihre Mutter wiederkommt. Dass sie ihr Leben leben darf und sie die Promotionsstelle in Berlin annehmen kann. Dass sie ihr Herz wieder öffnet.
Auch die anderen Protagonisten haben mich stark beeindruckt: Ida ist einfach bewundernswert, wie sie nach und nach aus ihrem Schneckenhaus kommt. Ivan ist schreckliches widerfahren und mit der Zeit tauen seine eisigen Augen etwas auf. Die Mutter zeigt typisches Suchtverhalten und ist zerrissen zwischen Einsicht und Absturz.
Mich hat das Buch komplett erreicht und voll ins Herz getroffen. Caroline Wahl hat das große Talent, sich kurz zu halten und doch so viele Bilder im Lesenden zu erzeugen.
„22 Bahnen“ ist ein stilistisch besonderes Buch mit Tiefgang und gerne spreche ich meine Leseempfehlung aus. 5/5 Sternen